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Arschbombe

Seepferdchen Foto: Andrea Litzenburger

Im Schulsport war ich immer eine Gurke. So wie meine Mutter. Die hat daraus auch nie einen Hehl gemacht. Mein Vater, der selbst mit einem 2/3 Lungenflügel und Chemotherapie noch Rennrad gefahren ist, haute allerdings bei jedem „Schulsport: ausreichend“ auf dem Zeugnis mit dem Kopf auf die Tischplatte: „Das hast Du nicht von mir. Das hast Du nicht von mir.“

Dabei hatte ich nicht einmal ein gesellschaftlich anerkanntes Sportgurkendefizit wie Übergewicht oder ein zugeklebtes Brillenglas. Ich war einfach ein ganz durchschnittliches, wenn auch auffallend unsportliches Mädchen.

Daran muss ich denken, als ich vor zwei Wochen mit unserem kurzen Kind auf dem Arm am Beckenrand (wo ich zur Abwechslung mal keine Jugendlichen zusammenscheiße) im Schwimmbad stehe.

Mein Mann, damals wie heute ein Sportfeststreber allererster Klasse, steht neben mir und kann froh sein, dass ich ihn trotz seiner ganzen Angeberehrenurkunden im Schrank geheiratet habe.

Gemeinsam warten wir auf das große Kind, das im Übungsbecken Woche für Woche seinem heiß ersehnten Seepferdchen entgegenstrampelt.

Ich schaue der Schwimmlehrerin zu, die mit einer Horde anderer Schwimmlehrer eine Horde Vorschulkinder durchs Wasser scheucht. Ich finde sie ein bisschen rabiat, weil sie im Gegensatz zu mir und meinem perfekt sitzenden Jesper-Juul-Badeanzug keine Sätze wie „Ich finde es schön, dass Du den Armkreisfrosch magst“ von sich gibt.

Ich muss an meine eigenen SportlehrerInnen denken. Dieses sonnenbankgebräunte Trainingsanzugträgerpack, das mir mit Trillerpfeife um den luftgetrockneten Hals und vom Raucherhusten begleitet entgegen schrie: „HÖR AUF ZU HEULEN, HECKER!“ 

Ich habe es in meinem ganzen Leben nicht ein einziges Mal über den Bock beim Geräteturnen geschafft, sondern thronte nach dem Sprung immer breitbeinig und gedemütigt auf dem verfluchten Holzkasten. „SCHWING DEINEN HINTERN DARÜBBBA, HECKER!“

Wie ein nasser Mehlsack hing ich an den Ringen und war tatsächlich nie in der Lage, mich auch nur eine Zahnstocherlänge an den Scheißdingern hängend hochzuziehen. „HOCH! HOCH! HOCH, HECKER!“

Soeben höre ich die Schwimmlehrerin meinen Sohn anbrüllen: „Schwimmen ist nicht Planschen! Schwimmen ist Sport!“ und nachdem er sofort damit aufgehört hat, dem Mädchen neben sich (das er „sooo dooof“ findet) die mit Schwimmbadwasser gefüllten Backen ins Gesicht zu strahlspucken, ruft sie ihm zu:

„Also los! Kopf hoch! Beine zusammen, Arme auseinander!“

Er schwimmt eine Bahn. Sie schaut zu mir hinüber und schreit: „Der macht das super. Der hat überhaupt keine Angst.“ Und dann brüllt sie das nächste Kind an. Ja, sie brüllt. Laut, aber nicht unfreundlich. Schließlich muss sie sich in dem Becken voller Trainer und Kinder Gehör verschaffen.

Der Junge, der nach meinem Sohn schwimmen soll, ist eine Sportgurke. Für so was hab ich ein Auge. Er traut sich nicht mit dem Kopf unter Wasser, und überhaupt klammert er sich am Beckenrand fest, während der kleine Angeber vor ihm eine Schneise durch das Wasser pflügt, als ob er im Leben noch nie etwas anderes getan hätte.

Während ich den Jungen beobachte fällt mir ein, dass ich in der 7. Klasse mal während der Bundesjugendspiele nach Hause gegangen bin. Ich war auf dem Weg zum 1000-Meter-Lauf und ging stattdessen einfach (ohne mich abzumelden) nach Hause. Ich habe den ganzen Heimweg Rotz und Wasser in meinen Turnbeutel geweint, weil ich von vorne herein wusste, dass ich, an allen Wartenden vorbei, als Letzte durchs Ziel laufen würde.

Am liebsten möchte ich jetzt zu der kleinen Gurke hingehen und ihm sagen: „Du musst das nicht tun, wenn Du nicht willst.“ Aber ich bin vermutlich auch die Einzige hier, die älter als 6 Jahre ist und immer noch kein Seepferdchen hat.

Und während ich dem fremden, nichtschwimmenden Angsthasen schon fast meine Hand reichen will, um ihn aus der Sportbeckenhölle zu ziehen, taucht neben ihm die Schwimmlehrerin auf.

Aber erstaunlicherweise brüllt sie gar nicht: „HÖR AUF ZU HEULEN, HECKER“ in sein Ohr, sondern sagt einfach in ganz normalem Ton: „Du brauchst keine Angst zu haben. Du schaffst das.“

Sie sagt das mit fester, schnickschnackloser Stimme, die keinen Zweifel daran zulässt, dass sie an die kleine Schissbuxe mit den Schwimmscheiben glaubt.

Und der Kleine schwimmt los.

Und geht unter.
Spuckt Wasser. Hustet und würgt.

Wird gehalten.
„Du brauchst keine Angst zu haben. Du kannst das.“

Und er schwimmt weiter. Geht wieder unter.
Taucht wieder auf.

Hustet.
Und schwimmt den Rest zu Ende wie ein Großer.

Am Beckenrand angekommen, dreht er sich um und strahlt irre stolz über das ganze Gesicht. Die Schwimmlehrerin nickt ihm zu, weist meinen Sohn in die Schranken, der in irgendeinen kollektiven Blödsinn mit Tauchringen verwickelt ist, und schwimmt wieder zurück zum nächsten Kind.

Ich lasse dieses Bild noch einen Moment auf mich wirken, bevor ich meinem Mann das kurze Kind in die Hand drücke und gehe. Weil ich jetzt etwas tun muss, das ich bereits vor 30 Jahren hätte tun sollen.

Ich gehe aus dem Trainingsbereich hinaus und zum Sprungbecken.

Ich klettere die Leiter hinauf und gehe langsam den Steg bis zum Ende. Ich schließe meine Augen und denke an das kleine Mädchen, das sich immer und überall vor Angst in die Hose gemacht hat.

Und dann springe ich.

Als ich wieder auftauche, kann ich es kaum glauben.

Hecker hat endlich aufgehört zu heulen.
Hecker, die heute gar nicht mehr so heißt, ist gesprungen.

Ich klettere wieder aus dem Sprungbecken und strahle über das ganze Gesicht. Genau so wie vorhin die kleine Schissbuxe mit den Schwimmscheiben.

Tatsächlich bin ich so dermaßen gerührt und glücklich, dass ich für einen kurzen Moment befürchte, mir schießt die Milch wieder ein.

Als ich im Trainingsbereich ankomme, hüpfen die Seepferdchenanwärter gerade in der Abschlussrunde vom Beckenrand. Ich stelle mich wieder neben meinen Mann. Er schaut zu mir hinunter und fragt: „Wo warst Du?“ und ich antworte irre stolz:

„Ich hab eine Arschbombe vom 1-Meter-Brett gemacht!“

 

Für die Bundesjugendspiele.

Ich habe gehört, dass sie Euch abschaffen wollen, und erst wollte ich ihnen „Richtig so. Gebt’s dem Arschloch“ zujubeln.

Aber vielleicht sollten wir stattdessen lieber Eltern abschaffen, die sich mit der flachen Hand an die Stirn hauen, weil ihre Kinder defekte Sportskanonen sind.

Oder Eltern, die ihren Kindern bereits von klein auf vorleben, dass man für acht Treppenstufen lieber den Fahrstuhl nimmt.

Oder Eltern wie mich, die aus Angst vor der Demütigung ihres (eigenen inneren) Kindes solche Sportveranstaltungen am liebsten vom Lehrplan fegen möchten.

 

Nachtrag 09.09.2016:

Dieser Text ist unter den ersten 10 Finalisten des scoyo ELTERN! Blog Award 2016.
Bis zum 16.10.2016 könnt ihr dem Text ein Herz schenken. Das wäre total super, weil es da für mich neben Ruhm und Internetehre auch einen großen Haufen Asche auf die Bahn zu gewinnen gibt. Außerdem könnt ihr selber beim Leservoting € 150.– gewinnen.

Allen Teilnehmern viel Glück!❤

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