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Emotionale Inkontinenz unter Müttern

Emotionale Inkontinenz Foto: Andrea Litzenburger

Oder: Wie viele Tränen passen in einen Kanal

Als informierte Mütter wissen wir nicht erst seit unserem letzten Stiftung Warentestschreck, dass wir Weichmacher meiden sollen. Wer allerdings glaubt, mit dem Verzicht auf phalathaltiges Spielzeug bereits auf der sicheren Seite zu stehen, hat die Rechnung ohne die Kinder gemacht.

Kinder weichen nämlich nicht nur das Gewebe, sondern vor allem auch die Psyche auf, und selbst alltägliche Dinge verwandeln sich unter dem Einfluss der Elternschaft in emotionale Landminen.

Das geht bereits in der Schwangerschaft los. Nach erfolgreicher Einnistung wird das Glück eines positiven Schwangerschaftstests mit der selben Intensität beweint wie das mitternächtliche Auffinden eines leeren Nutellaglases und sobald Jens Riewa von seinen Zetteln in der Tagesschau irgendwas mit Kindern abliest, müssen wir umschalten.

Ich habe nach der Geburt zwei Liter Tränen über die ersten Seiten von Henning Mankells „Kennedys Gehirn“ in mein Badewasser geweint, weil zu Beginn der Geschichte eine Mutter ihren toten Sohn findet.

Das mag verständlich sein, aber ich habe auch schon zwei Liter Tränen wegen eines Werbespots vergossen, weil zwei Menschen bei strömenden Regen eine Packung Schokoladenriegel austauschen.

Denn wo uns der postpartal schlecht gelaunte Beckenboden seine Beschränktheit lediglich nach einem Niesen aufzeigt, kennt unsere emotionale Inkontinenz nahezu keinerlei (rationale) Grenzen.

Die Vorstellung, dass das schlafende Baby in unseren Armen irgendwann auszieht oder der Zweiwortsatz „Mama-lieb“ aktivieren unsere neu gewonnene Heulsusigkeit genauso zuverlässig wie der erste gemalte „Kopffüßler“ oder das hart erkämpfte Seepferdchenabzeichen.

Eben noch entspannte Autobahnfahrten enden nach dem versehentlichen Anhören des vom Gefühlsduselbarden Reinhard Mey besungenen „Apfelbäumchens“ bereits nach der ersten Strophe auf dem Pannenstreifen, weil man vor lauter Wimperntuscheschmierfilm keine Verkehrsschilder mehr erkennen kann.

Mit der Elternschaft betreten wir sensibles Neuland, und unser Herz wird zur Achillesferse. Eine Verwundbarkeit bemächtigt sich unser, die es so vorher nicht gegeben hat.

Brauchen wir jetzt jemanden der uns ohrfeigt, wenn wir beim Gedanken an die Hochzeit unseres Säuglings Rotzblasen an der Wickelkommode heulen? Eine Zimperlieschenzensur für die ersten 10 Minuten sämtlicher Disneyklassiker? Oder lieber ein Heulsusenbootcamp auf Langeoog?

Nix da!

Emotionale Inkontinez unter Müttern ist sicherlich anstrengend, aber zeugt letzten Endes von einer unfassbaren Hysterie wunderbaren Empathiebereitschaft, die wir auf keinen Fall wegrationalisieren sollten.

Tragen wir unser mütterliches Alice-Cooper-Make-Up lieber mit Würde, statt uns an allen Ecken dafür zu entschuldigen, dass der gebastelte Muttertagstesafilmquatschklumpen uns zu Tränen rührt.

Die neugeborene Sensibilität darf bleiben, solange sie kein lähmender Begleiter im Alltag wird.

Und derweil trösten wir uns mit der zuverlässigen Tatsache, dass sich überall auf der Welt an dem Tag, an dem sich große Kindergartenkinder in kleine Schulkinder verwandeln, die Augenringe aller Mütter kollektiv mit Tränen füllen.

Sophie Scholl hatte nämlich Recht: „Solange wir einen harten Geist haben, darf unser Herz weich sein.“

Butterweich.

Für den schmucken Serienvater Charles Ingalls aus der 80er Prärieschmonzette „Unsere kleine Farm“. Ganz gleich, ob die kleine Mary nun nach einer Scharlachinfektion ihr Augenlicht verliert oder die entsetzliche Mrs. Oleson in der Vorweihnachtszeit die Kartoffelpreise senkt:

Der Mann hat die emotionale Inkontinenz einer Wöchnerinnenstation.

 

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