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Ab heute geh ich ohne Feuchttücher auf den Spielplatz

Ab heute ohne Feuchttücher auf den Spielplatz Foto: Andrea Litzenburger

Oder: Schade, dass man das zweite Kind nicht zuerst bekommt.

Wenn man schon 70 Stunden die Woche in einem OP ohne Labor oder Röntgenkontrolle mitten im indischen Niemandsland gearbeitet hat, sollte man meinen, dass einen nichts mehr schocken kann. Da hatte ich allerdings auch noch nicht mein erstes Kind bekommen.

Mit einem Kind wird eine Resettaste im Leben gedrückt und plötzlich ist nichts mehr, wie es war. Die ersten Wochen fühlen sich an, als ob man unter dem permanenten Einfluss einer miesen Flasche Rotwein Origamischwäne faltet oder sich statt zu schlafen lieber zum x-ten Mal verheult einen Milchstau wegduscht.

Dabei wollte ich doch mich und mein Baby in einem Tragetuch durch eine flotte Kangastunde wuppen, statt im Internet lauter Scheiße zu recherchieren (wieso ist die plötzlich grün, wenn das Kind erhöhte Temperatur hat… und wann zur Hölle spricht man eigentlich genau von dieser erhöhten Temperatur?).

Gibt es etwas tragisch-komischeres, als eine schweißnasse Mutter, die ihr sich windendes, über und über in kaltgepresstem Bio-Mandelöl getränktes Kind anfleht, sich jetzt bitte endlich zu entspannen?

Welche Mutter würde am liebsten ihre Nachbarin verklagen, weil sie dem Baby ungefragt einen Weißmehlzwieback geschenkt hat? Und welche Mutter putzt ihrem Baby nachts nach der Akutglobuligabe im 10-Minuten-Takt den ersten Zahn?

Gestatten: ich.

Ein neurotischer Einzelfall unter frischgebackenen Müttern? Schön wärs.

Es wurde also dringend Zeit, dass ich mich in diversen Babyschwimmstillmusikkrabbelmassagekursen von anderen Müttern erden ließ.

Was ich allerdings zu diesem Zeitpunkt noch nicht wusste, ist, dass ein Haufen Erstlingsmütter für eine Erstlingsmutter ungefähr so nützlich ist, wie eine Schule voller Kindergartenkinder, die sich gegenseitig Lesen und Schreiben beibringen wollen.

Ich habe nach meiner ersten Pekipstunde den ganzen Heimweg über im Auto geweint, weil mein Sohn der Einzige in der Gruppe war, der mit 10 Monaten den Kopf noch nicht heben konnte und wollte ernsthaft meine Autoschale wieder umtauschen, weil eine Mutter sie als bei Stiftung Warentest „nur mit gut getestet“ identifiziert hatte. Wenn sie mich eine heroinspritzende Hure genannt hätte, wäre ich vermutlich genauso verletzt gewesen.

Nehmen wir nur mal die unbedarfte Frage nach einem wunden Hintern. Sozusagen der Klassiker unter den „Was-soll-ich-jetzt-nur-machen“ Fragen des mütterlichen Alltags.

„Du musst dir UNBEDINGT die Honigwundsalbe von Burt’s Bees bei Amazon bestellen.“

„Aber die hat doch tausend Allergene. Nein, nein, du musst dir UNBEDINGT das Ingeborg Stadelmann Lavendelhydrolat in der Bahnhofsapotheke bestellen.“

„Es gibt nichts besseres als Heilwolle. Du musst dir UNBEDINGT Heilwolle besorgen. Ich bestelle die immer beim Hans Natur.“

„Wir lassen unsere Heilwolle immer direkt beim kBa-zertifizierten Bauern vor Ort scheren und walken dann unsere eigenen Windeln. DAS solltest du UNBEDINGT mal ausprobieren.“

Abgesehen von Scheren und Walken habe ich tatsächlich alles brav gemacht. Heute würde ich wohl eher „Die Ritter der Kokosnuss“ zitieren: „Erklärt mir doch bitte noch einmal, wie man mittels Tütenaufblasen Erdbeben verhindern kann!“

Jetzt kann man da drüber lachen. Aber wenn man gerade erst Mutter geworden ist, lastet diese neue Welt oft viel zu schwer und ernst auf unseren ungeübten Schultern. Alles will man richtig machen. 100%. In unserem ersten Muttertagszeugnis soll „zur vollsten Zufriedenheit“ stehen. Deswegen hat man für jeden Ratschlag, sei er hilfreich oder abstrus, ein offenes Ohr oder Portemonnaie.

Bis die Notbremse gezogen wird. Denn die müssen wir irgendwann ziehen, wenn wir nicht irre werden wollen.

In meinem Fall war das ein spätsommerlicher Septembernachmittag. Es waren bereits ein paar Tage vergangen, seit mein Sohn seine 1. Kerze auf dem ei-, zucker- und mehlfreien Möhrenkuchen ausgepustet hatte, als ich mit ihm auf dem Spielplatz saß. Er spielte im Sandkasten zwischen meinen Füßen und dem prall gefüllten Rucksack voller Picknickutensilien und Wechselwäsche.

Mir gegenüber saß eine Mutter, deren Kinder ebenfalls den Sandkasten umgruben. Und während sie so da saß und ihr müdes Gesicht der spätsommerliche Sonne entgegenstreckte, schenkte sie mir kurz ein verschwörerisches Lächeln, als ihr Sohn, mit wohligem Gegrunze, seine Schaufel ablutschte. Dann schloss sie wieder die Augen und hielt ihr Gesicht weiter in die Sonne.

Die Szene hat mich sehr berührt. Der Flügelschlag eines Schmetterlings kann also zumindest auf der anderen Seite des Sandkastens einen Tornado auslösen.

Denn diese Frau wirkte, so ganz und gar im Gegensatz zur mir, trotz ihrer Müdigkeit angekommen.

Sie strahlte eine herrliche Scheißegal-Launigkeit aus und wirkte dabei zufrieden. Müde, aber zufrieden. Nicht liebevoller oder abgeklärter, schlauer oder empathischer als andere Mütter, sondern einfach wunderbar undurchgeknallt.

Da begriff ich, dass wenn ich meinen 40. Geburtstag ohne Betablocker oder Kuraufenthalt erleben wollte, ich endlich mit diesem (an dieser Stelle zitiere ich gerne meinen heute 5 Jahre alten Sohn, wenn mal wieder die Erbsen auf der falschen Seite des Tellers liegen) „Scheißkackverdammtscheißkack“ aufhören musste.

Ich musste mich (und das musste ich tatsächlich UNBEDINGT) endlich verflucht noch einmal locker machen!

Ich musste aufhören, mich ständig in Frage zu stellen und alles, was nicht sofort reibungslos lief, meinem persönlichen Versagen in die Schuhe zu schieben. Ich hatte viel zuviel Zeit darauf verschwendet, auf andere Leute zu hören oder Apfelscheiben sternförmig auszustechen, anstatt wirklich und wahrhaftig zur Ruhe zu kommen um endlich diese feine, leise innere Stimme zu verstehen, die alle Intuition nennen, und die ich bis dato vergeblich gesucht hatte.

12 Fahrstunden habe ich gebraucht, um meinen Führerschein zu erhalten. Tatsächlich habe ich Jahre gebraucht, um Autofahren zu können. Warum hatte ich also angenommen, dass mit dem Kind auch die Erfahrung geboren wird?

Ich beschloss von nun an, dass es okay ist, wenn ich die Unterseite des Pulloverbundes zum Naseputzen der Kinder hernehme oder das ein 5 kg Rapunzel Basismüsli und ein Nutellaglas eine friedliche Koexistenz in meinem Küchenschrank führen können.

Dass ich ihnen ab und zu ein Filly-Bob-der-Baumeister-mit-Plastikschißkram-Heft kaufen kann, ohne gleich mit geistiger Verwahrlosung zu rechnen.

Ich würde auch aufhören, so zu tun, als würden wir ausschließlich im Urlaub an der Autobahnraststätte ausnahmsweise zu Mc Donalds fahren, weil ich nach einem langen Samstag im Schwimmbad sehr wohl die Vorzüge einer schnellen Pommes zu schätzen weiß.

Ein wunder Hintern ist für alle Beteiligten nicht schön und manchmal schlimm, aber er bedeutet nicht das Ende der Welt.

Und wenn man dann noch hergeht und die ganzen anderen Mütter in seinem Freundes- und Bekanntenkreis sorgfältig durchsiebt, sollten nur noch die hängen bleiben, die einem am Ende einfach nur die Hand halten, wenn man sich über seinem Milchkaffee ausweint und nicht diejenigen, die immer alles besser wissen.

Ich war heute auf dem Spielplatz.
Ich habe mein Gesicht der Sonne zugewandt und die Schatten fielen hinter mich.
Und das Beste: Ich hatte keine Feuchttücher dabei.

 

Für Nadine, die mir erst letztens wieder meine Hand hielt.
Und für Julia, die mit dem Aussieben beginnen sollte.

 

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