Website-Icon Andrea Harmonika

Königsberger Klopse

Drei Frauen Foto: Andrea Litzenburger

An einem Wintertag vor 70 Jahren bestieg Frieda mit ihren beiden Töchtern ein Schiff, das sie über die Ostsee nach Kiel bringen sollte.

Dass Frieda und ihren beiden Töchtern die Überfahrt auf einem jener Schiffe geglückt ist, grenzt an mehr als nur ein Wunder.

Schließlich hatten sie die Wilhelm Gustloff, ein Evakuierungsschiff, das am 30. Januar 1945 mit schätzungsweise mehr als 9000 Menschen an Bord vor der Küste Pommerns versenkt wurde, nur knapp verpasst.

Die glückliche Verzögerung hatte Frieda verursacht, weil sie, starr vor Angst und traumatisiert durch Plünderung und Vergewaltigung, am Tag der Flucht zunächst in die heimische Küche marschierte, sich vor die geöffnete Ofenklappe kniete und das Gas bis zum Anschlag aufdrehte.

Nur dem beherzten Eingreifen der 17 Jahre alten Tochter Lieselotte und ihrer nicht minder beherzten Ohrfeige ist es zu verdanken, dass Frieda sich schließlich doch noch aufraffte und mit der 7 Jahre alten Dorothea auf dem Arm und Lieselotte mit einem Bündel Wäsche im Schlepptau zum Hafen lief.

Dort angekommen wurde Lieselotte allerdings der Zutritt auf das rettende Schiff verwehrt, weil man den Auftrag hatte, nur Mütter und Kinder an Bord zu lassen. Von ihrer Mutter und der kleinen Schwester getrennt, stopfte sie sich hastig das Bündel Wäsche unter den Mantel, während um sie herum panische Menschen, die sich mit Gewalt Zutritt verschaffen wollten, erschossen oder in die Ostsee gestoßen wurden.

Abermals reihte sie sich in die nicht enden wollende Schlange der Wartenden ein. Der Soldat am Kontrollpunkt wurde misstrauisch und tastete ihren vermeintlich hochschwangeren Bauch ab.

Sofort spürte er den Betrug, der unter diesem hübschen Wintermantel verborgen lag. Ein Wintermantel aus feinem Stoff, den Lieselotte selbst genäht hatte und der ihr ganzer Stolz war.

Und nach einem kurzen Moment, in dem er das Mädchen anstarrte, das nun glaubte, es müsse sterben, winkte er Lieselotte auf das Schiff, wo sie sich sofort auf die Suche nach ihrer Mutter und der kleinen Schwester machte.

70 Jahre später starrt eine junge Frau in ihre Facebook-Timeline und liest Kommentare besorgter Bürger. Sie ist eine von bislang 24 Nachkommen jener drei Frauen aus Ostpreußen.

Einer Flüchtlingsfamilie, die damals auch niemand haben wollte. Die da von drieben kamen mit ihren kaukasischen Wangenknochen und Königsberger Klopsen. In ihren schicken Wintermänteln, nur um den Überresten des Landes auf der leeren Tasche zu liegen.

Aber entgegen der allgemeinen Befürchtungen wurden sie Altenpflegerinnen und Musiker, Autoren und Frisörinnen, Künstler und Angestellte, Lehrerinnen und Industriekauffrauen, Sozialarbeiter und Beamtinnen, Bankangestellte und Erzieherinnen, Krankenpfleger, Politikwissenschaftler und Arzthelferinnen.

Mein abschließender Dank gilt deshalb all jenen, die den damaligen Flüchtlingen aus dem heutigen Kaliningrad nicht die Auffanglager angezündet haben.

Flüchtlingen wie Lieselotte.
Meiner Oma.

Für meine Großnichte.
Friedas zehntes Ur-Ur-Enkelkind.

#BloggerFuerFluechtlinge

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