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Mein Baby ist doof

Und niemand hat mir vorher gesagt, dass ich damit nicht alleine bin.

Als meine Freundin Silvia mich und meinen 3 Wochen alten Säugling besuchte, hielt sie mit sentimentalem Gesichtsausdruck mein schlafendes Baby im Arm und sagte: „Was hast Du Dich auf dieses Kind gefreut. Du musst wirklich der glücklichste Mensch auf der Welt sein.“

Daraufhin habe ich nur genickt und musste meine gesamte Selbstbeherrschung aufbringen, um nicht in Tränen auszubrechen. Um keinen Preis der Welt wollte ich undankbar scheinen oder an diesem Bild des vollkommenen Glücks rütteln. Mich nicht der schrecklichsten Gefühlssünde schuldig machen, der sich eine Mutter nur schuldig machen kann: Das Baby doof finden.

Denn was die liebe Silvia nicht wusste, war, dass ich am Abend zuvor noch auf der Bettkante gesessen und Sturzbäche geheult hatte, während (und weil) ich dachte: „Oh Gott, wir haben einen Fehler gemacht… warum mussten wir unbedingt ein Kind haben… wir waren doch glücklich… es hat nichts gefehlt… ich schaff das nicht… Gott, wie soll ich noch so eine Nacht durchhalten… unser Leben ist vorbei… ich werde nie wieder ein Kino von innen sehen… herrje, wie oberflächlich kann man sein, jetzt an ein Kino zu denken…“

Diese Gedanken haben mir (bis heute) die schlimmsten Schuldgefühle meines Lebens eingebrockt. Konnte es tatsächlich sein, dass die Natur eine so verquere Mutter hervorgebracht hatte, die ihr Baby doof fand?

Ja, ich fand mein Baby tatsächlich doof. Wenn es z. B. stundenlang schrie und ich nicht wusste, was ich außer tragen, stillen, singen, wickeln und föhnen noch machen sollte. Wenn ich bis zum Umfallen erschöpft war und dachte, ich sei die einzige Mutter auf der Welt, die den Hungerschrei nicht vom Furzschrei unterscheiden konnte.

Und ich war enttäuscht. Tatsächlich hatte ich nämlich in irgendeiner ganz tiefen, unterbewussten, beknackten Ecke meines dummen, nichts ahnenden Herzens geglaubt, ich würde mich in die Claus Hipp Mutter auf der Blumenwiese mit sanftem Lächeln und strahlend weißem Sommerkleid verwandeln.

Aber hier saß ich. Die Wiese war mein Wohnzimmer, das Blumenmeer ein Haufen vollgerotzheulter Taschentücher und abgesehen von meinem Hintern passte ich mit diesem abstrus großen Busen in kein einziges meiner Sommerkleider.

Die erste Schwangerschaft, die erste Geburt, das erste Wochenbett und das erste Mal überhaupt zu erleben, was es wirklich heißt, plötzlich eine Familie zu sein – das sind Premieren in unserem Leben, die neben strahlendem Licht auch Schattenseiten bereithalten.

Leider können aber gerade am Anfang die unterbelichteten Momentaufnahmen die sonnigen Seiten der Mutterschaft stark überlagern. Natürlich gab es in meinem Alltag auch Augenblicke, in denen mein Herz vor lauter Liebe zu platzten drohte, aber es gab auch diesen frustrierenden, ungekannten Freiheits- und Freizeitentzug.

Und allen, die jetzt angesichts meiner Naivität oder Selbstsucht empört im Dreieck springen, kann ich nur sagen, dass ich es genau so empfunden habe. Ich würde hier auch lieber ein paar souveränere Worte über mich lesen, aber wem würde das nützen?

Denn abgesehen von meinen Schuldgefühlen dem manchmal „doofen“ Baby gegenüber habe ich es trotzdem mit jeder Faser meines Herzens geliebt.

Aber diese Liebe war eine ganz andere und deshalb auch so verwirrend, weil sie über das übliche mir vertraute Gefühl von „Lieben“ hinaus ging.

Während Abhängigkeit oder die totale Verantwortung für das Glück des anderen eher das Ende der partnerschaftlichen Liebe einläuten, beginnt die Elternliebe hier erst so richtig.

Diese Liebe ist nicht frei. Sie ist eine abhängige Liebe und es liegt tatsächlich in unseren Händen, ob das Kind glücklich ist. Welch unglaubliche Verantwortung! Was wir als Bürde in einer Liebesbeziehung empfinden würden, sind im Bezug auf unsere Kinder völlig normale Umstände.

Und auch die Elternliebe kann als Bürde empfunden werden. Ein Säugling weiß und versteht nichts von z. B. Magen-Darm-Viren und dass Mama jetzt nicht sofort stillen kann, weil es neben der Muttermilch auch noch aus anderen Körperöffnungen schießt.

Damit muss man seinen Frieden machen. Seine überhöhten Ansprüche abstreifen und alle Gefühle zulassen. Auch die negativen. Oder sich Hilfe holen. Denn niemand (abgesehen vielleicht von uns selbst) wird uns verurteilen, weil wir um Hilfe bitten (oder uns vom Wochenbettbesucher lieber einen großen Topf Gemüsesuppe statt ein weiteres Kapuzenbadehandtuch wünschen).

Aber bevor ich jetzt gänzlich in die nervtötende Abgeklärtheit einer Nicht-mehr-Erstlingsmutter rutsche, möchte ich noch Folgendes erzählen:

Vorgestern saß ich um 21.07 Uhr auf der Treppe im Flur, nachdem beide Kinder eingeschlafen waren. Ich hatte einen Jesper-Juul-großen Kloß im Hals und war am Heulen.

Weil in meiner Tagesbilanz mehr Keifen als Kuscheln stand. Weil ich beim abendlichen Zähneputzen wieder diese verkackten „Wenn-Dann-Sätze“ benutzt habe. Weil ich nach dem gefühlt 30. Mal „Zieh Deine Unterhose wieder an“ nicht: „Ich verstehe, dass Du das lose Gefühl in der Buxe magst (was ich zugegeben nur theoretisch verstehe), aber Du hattest in den letzten Monaten zwei Nierenbeckenentzündungen“ sondern irgendwann nur noch: „Weil ich es Dir sage“ geantwortet hab.

Unsere Kinder sind das mit Abstand abgefahrenste, was wir je gemacht haben. Es vergeht kein (!) Tag, an dem ich mich nicht, sollte es in irgendeiner Weise dienlich sein, für sie vor ein Auto werfen würde oder mir das Herz nicht vor lauter Liebe und Geliebtsein überquillt.

Aber es vergeht auch kaum ein Tag, an dem sie mich nicht wahnsinnig machen, weil sie einen Sack Zement auf der Terrasse verteilen oder sämtliche meiner Versuche, Gemüse in ihr Essen zu schmuggeln, mit Boykott quittieren.

Es hört also nicht auf. Neben unserer Liebe treffen wir immer wieder auf Erschöpfung oder Wut, aber vermutlich gibt es wenige Phasen, die in ihrer körperlichen und emotionalen Intensität an die erste Zeit mit dem ersten Kind heranreichen (ich behalte mir vor, diese Passage ggf. zu streichen, wenn die Kinder in die Pubertät gekommen sind).

Amelie Fried hat einmal geschrieben:

Es ist normal, wenn Sie gelegentlich Lust haben, Ihre Kinder aus dem Fenster zu werfen. Es ist nicht normal, wenn Sie es tun!.“

Wer jetzt von sich behauptet, er könne diesen Satz nicht nachvollziehen, der trete vor und werfe den ersten Legostein.


Für Anna,

deren Kommentar zu „Ab heute geh ich ohne Feuchttücher auf den Spielplatz“ mich sehr berührt hat. Die ich an dieser Stelle gerne in den Arm nehmen möchte, weil ich aus eigener Erfahrung weiß, dass weder ein weiterer guter Ratschlag, noch eine hochgezogene Augenbraue oder irgendetwas aus dem Onlineshopsortiment der Bahnhofsapotheke hilft, sondern letztlich nur die Umarmung einer anderen Mutter, die zugibt:

„Mit meinem 6 Wochen alten Baby schien mir die Muttersonne auch nicht aus dem Poppes. Ich fand mein Baby manchmal sogar doof.“

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