Die verlorene Ehre des Fräulein Prysselius

Oder: Ephraim Langstrumpf ist ein Scheißkerl

Seit heute weiß ich, dass Quengelwarediskussionen mit kleinen Kindern an der Kasse eher eine Art Aufwärmübung sind. Den Supermarktsupergau hat man erst erlebt, wenn zwei hampelnde Kinder gemeinsam mit einem randvollen Wochenend-Einkaufswagen vor der Käsetheke umfallen.

Unsere Kinder machen wirklich sehr viele unfassbar beknackte Sachen und lachen sich darüber laut und herzhaft kaputt, während ich im Hintergrund versuche, die nächste sich ankündigende Arrhythmie zu veratmen.

Letzte Woche zum Beispiel haben sie einen Sack schnellhärtenden Zement auf der Terrasse verteilt, und während der Große nun mangels verschlampter Rohrzange versucht hat, mit einer Abisolierzange das bereits vorab geschrottete Gewinde des vor-vorab geschrotteten Außenwasserhahns zu öffnen, lag der Kleine auf dem Rasen und leckte die Zementreste von den Grashalmen. Auch wenn ich im letzten Moment den Großen daran hindern konnte, die mit schnellhärtendem Zement panierte Terasse zu fluten, kündigte sich am Himmel mal eben ein spontaner Platzregen an.

Solche Geschichten sind nur witzig, wenn sie anderen Eltern passieren. Oder wenn es sich um einen Pippi-Langstrumpf-Film handelt.

Besonders lustig fand ich es als Kind immer, wenn es auf Kosten der entsetzlich bemühten Erzieherin Fräulein Prysselius ging. (Richtig. Fräulein. Der damalige, unangefochtene Star unter den vornehm-sexistischen Anredeformen für eine alleinstehende Endvierzigerin).

Jedenfalls kenne ich niemanden, der je mit der Prusselise sympathisiert hätte.

Bis jetzt.

Denn nachdem unsere Söhne für uns eine Falle im Gästebad gebaut hatten, die eine fliegende Klobürste beinhaltete, und mein zuvor in besagte Falle gestolperter und daraufhin durchnässter Mann die lautstarke Premiere des Wortes „Kackwasser“ feierte, leistete ich innerlich Abbitte für eine der wohl mißverstandenen und fehlinterpretierten Frauen des letzten Jahrhunderts.

Abgesehen von ihrem albern dekorierten Hütchen und diesem in Handtuchhalterstellung verknickten Unterarm, an dem eine noch albernere Handtasche baumelt, erfasst mich mittlerweile beim Gedanken an diese verstörte Sozialpädagogin eine warme Welle des Verständnisses.

Nach dem letzten Vulkanausbruchsexperiment, das mich einen fast vollen Flakon Chanel Mademoiselle gekostet hat, während der Kleine eine Neil Diamond CD als Zahnungshilfe zweckentfremdete, stehe ich keifend mit zwei abgebrochenen Buddhaköpfen in der Hand im unangenehm gut riechenden Badezimmer. Die arme, unverstandene, gebeutelte Prusselise…

Bis vor ein paar Jahren fand ich ihren ganzen Habitus auch überzogen und spaßverderberlich, aber mittlerweile gehe ich sehr in Empathie mit der Dame, der man einen Eimer Kackwasser Farbe auf ihr Fräulein-Outfit kippt, sobald sie den mit Lebensmitteln übersäten Fußboden der Villa Kunterbunt betritt.

Denn wenn man sich die Geschichte jetzt einmal ganz genau anschaut, war sie schließlich, abgesehen von ihrer dämlichen Erscheinung und diesem ganzen fürchterlichen „Ab-ins-Heim-mit-dir-Kind“ Gekeife, die einzige Erwachsene, die sich für das künftige Wohlergehen des alleinstehenden, latent verwahrlosten Mädchens in der Villa Kunterbunt interessierte.

Hatte ich erwähnt, dass im ganzen Haus geladene Waffen herum liegen? Oder dass Pippi im Winter lediglich einen Tex-membranlosen Strickschal mit Wassersäule 0 trägt, während sich ihr nichtsnutziger Piratenvater auf den sieben Weltmeeren vergnügt und lediglich alle paar Monate vorbeischaut, um dem Töchterchen eine Kiste Gold vor die Tür zu stellen?

Im Grunde sollte der nostalgische Shitstorm also nicht der Prusselise, sondern viel mehr diesem versoffenen, verantwortungslosen Scheißkerl Ephraim Langstrumpf gelten.

Rehabilitieren wir also endlich die beknackte alte Schachtel und leiten ihren lange überfälligen Heiligsprechungsprozess ein.

Dazu bedarf es, laut dem vatikanischen Kanonisierungsgedöns, lediglich zweier Voraussetzungen:

1. das Erleiden eines Martyriums oder der Nachweis einer heroischen Tugend des Betreffenden (hier können wir im Gegensatz zu den landläufigen Heiligsprechungsprozessen einen mehrstündigen Videobeweis erbringen) und

2. falls der Kandidat keinen Märtyrertod erlitten hat, wird der Nachweis eines Wunders gefordert. (Da über das weitere Leben und Wirken der Prusselise nur wenig bekannt ist, möchte ich auf das sehr verwunderliche Wunder zurückgreifen, dass Ephraim Langstrumpf noch nie einem smaländischen Jugendamt gemeldet wurde.)

Lasst uns also endlich die verlorene Ehre des Fräulein von Frau Prysselius wiederherstellen und sie zur Schutzpatronin aller SozialpädagogInnen, ErzieherInnen und gebeutelten Eltern ernennen.

Das schulden wir ihr und unseren Köpfen, die wir uns im Alltag mit verhaltenskreativen Kindern gerne an der Grenze unserer persönlichen Coolness stoßen.

Amen.

Für die wunderbare Johanna, die meine Kinder nie schrecklich, sondern „verhaltenskreativ“ nennt. Viel Glück für deine Mary-Poppins-Abschlußprüfungen.

30 Gedanken zu „Die verlorene Ehre des Fräulein Prysselius

  1. 😀 😀 😀
    Oh Mann! Habe lang und laut gelacht – made my day!!!!
    -> Auf diesem Wege möchte ich noch weitere Bedenken äußern. Ich bin der Ansicht, dass bezüglich Pipi Langsrumpf nicht nur das Jugendamt, sondern auch die Tierschutzbehörde versagt hat! Oder sollte das bei dem armen Affen etwa artgerechte Haltung sein? Und dann das arme arme Pferd: Ständig wird es hochgestemmt! *Kopfschüttel*
    Ja, das Fräulein Prusselise hat ihr Bestes gegeben…
    Und ja: Vater Langstrumpf hätte wirklich vor Gericht gestellt gehört – befanden sich doch in der Goldkiste auch höchstwahrscheinlich Anabolika, oder warum wäre diese kleine Göre sonst so stark gewesen?!
    Zu Deinem Nachwuchs: Herzlichen Glückwunsch zu solch aufgeweckten und kreativen Kindern! 🙂 Siehst Du, SO geht das! 😉
    Inhaberin der goldenen Fackel für Kindermist ist allerdings noch immer meine Freundin, deren 4 und 6 Jahre alte Söhne erst das Auto mit Farbe neu dekorierten und anschließend mit einem Trampolin verwechselten…

  2. Danke für die Vorwarnung. Mein ebenfalls verhaltensaktives Kind ist erst 3.
    Da hab ich ja noch was vor mir.
    Ich fühle mit Euch.
    Kacka-Wasser! Brrrrrrrrrrrrr!
    Liebe Grüße
    Anna

  3. Sooo genial geschrieben und sooo genial durchdacht. Ich – durch Jahre mit ebenso liebenswerten wie verhaltenskreativen Kindern geprägt – habe noch nie zuvor groß über Fräulein Prysselius nachgedacht. Doch dank dieses herrlichen Posts muss ich meiner Abneigung gegenüber dieser verklemmten und steifen Person abschwören und gelobe, sie zukünftigen Generationen als einzig vernunftbegabte Person in diesem Drama eines vernachlässigten Kindes zu preisen.
    Ich gebe allerdings zu, dass ich doch auch mit Ephraim Langstrumpf sympathisiere:
    Wer selbst vollgekotzte Neuwagen, durchnässte Parkettböden („aber Pippi hat das doch auch gemacht…!“), schreiende Kinder, deren größter Wunsch in Form eines primitiven Plastikschießdings im Supermarkt von einer „oberdoofen“ Mama boykottiert wird, miterlebt hat, kennt die Hilflosigkeit von Eltern und den Wunsch, spontan auf dem nächsten Piratenschiff anzuheuern. Unser vollgestopfter Einkaufswagen fiel übrigens in der Kassenzone um, nachdem meine Kinder ihn als Klettergerüst missbraucht hatten. Nicht die heulenden Kinder und das hektische Einsammeln der vielen Einzelteile war schlimm, sondern die blöden Bemerkungen anderer… Das Fräulein hätte mir wahrscheinlich spontan das Sorgerecht aberkannt. Und ich hätte erleichtert die nächste ruhige – weil kinderfreie – Südseeinsel anvisiert. Klar liebe ich meine Kinder, aber manchmal sehne ich mich doch auch nach ein wenig Ruhe!
    Bitte noch viele, viele Posts aus Deinem Leben!

    1. Komm wir kapern die AIDA und lassen die Saubande eine Woche lang zurück. Oder ein langes Wochenende. Oder nur einen Sonntag. Oder wenigstens einen Nachmittag. Oder eine Haarkurlänge….Herrje man wird ja so genügsam…

  4. Hmmm – irgendwie bekomme ich gerade Angst davor, was kommt. Junior kann mit seinen 5 Monaten noch nichts anstellen, aber lange kann es nicht mehr dauern. Ich geh schon mal ein paar Drahtseile kaufen 😉

  5. Tochter Nr 1 hat im Alter von ca. 3 Jahren eben neu aufgehängte Vorhänge mit der Kinder-Papierschere um einen guten Meter gekürzt, während ich mal kurz den Raum verlassen hatte, um etwas zu holen. Ebenfalls im verhaltenskreativen Repertoire von Tochter Nr. 1: Waschbecken mit rotem Nagellack ausmalen, Kabel von den Boxen ihres CD-Players durchschneiden, weil die Musik zu laut war und ausprobieren, ob die Stromspinne wirklich in der Steckdose wohnt….mittlerweile ist sie 20 Jahre alt und ich freue mich schon darauf, wenn sie selbst mal verhaltenskreative Kinder bekommt 😉

  6. Danke für den meinen Sonntag erheiternden Beitrag! Hab Grad fertig Laternen gebastelt, was sagt doch mein Sohn zu seiner Laterne? Och Mama, die ist aber nicht schick….

  7. Kackwasser! Oh Gott, Kackwasser! *wegschmeiß* Fantastisches Word. Werde ich ab sofort in unseren Haushalt implementieren, wenn’s recht ist. Das Kiddo ist ja noch zu klein für so richtig katastrophale Aktionen. Im Moment beschränkt es sich lediglich darauf, sich in harmloser Absicht nähernden Fremden dünne Haarsträhnen auszureißen oder ihre Gesichtshaut mit den messerscharfen Krallen abzuschälen. Bin mal gespannt, was es zukünftig so ausheckt. Irgendwas mit Kackwasser, vermute ich.

  8. huch, wo ist mein kommentar denn hin verschwunden? dann noch mal 🙂

    ich glaube, ich wünsche mir dann (verhaltens-)unkreative kinder und bin gespannt, was da noch so auf mich zu kommt ^^ 2 Jungs, 15 Monate auseinander, das ist eh schon ne explosive Mischung glaube ich ^^

  9. dank ihres berichtes weiß ich nun nciht ob ich mich auf die kommenden jahre freuen soll/kann?es sollte doch alles besser bwerden…
    kackwasser und verhaltenskreativ; meine neuen lieblingsworte 😀

    1. Wenn Du mir jetzt noch schreibst, dass Du Therapeutin in einer Burn-Out Klinik bist und alle, die nun am Boden liegen Deine Patienten sind, dann werde ich vermutlich platzen vor Stolz. =D Liebste Grüße

      1. Leider nein!
        Ich bin nur Zahnärztin und es waren meine Kolleginnen, nicht die Patienten, die am Boden lagen. Aber vielleicht sollte ich es statt Anästhesie versuchen???
        Kannst trotzdem stolz sein
        Liebe Grüße
        Nunu

  10. Wenn ich eines schon als Kind nicht gemocht habe, dann war das Pippi Langstrumpf. Da ich aber aufgrund dieser Tatsache das arme gebeutelte Fräulein P. gar nicht kenne, werde ich das wohl nun als Erwachsene nachholen müssen! Vielen Dank für diesen wiedermal genialen Artikel. So, und jetzt geh ich ihn im www verbreiten 🙂

  11. Toller Artikel! Ich musste echt lachen und an meine verhaltenskreativen Kinder in meiner 5. Klasse denken…nicht nur Eltern sind manchmal gestraft. Dafür ist mein Junior,5, zum Glück nur kreativ 😊 Gut möglich, dass 2 Kinder sich gegenseitig besser mit ihren „Kackwasserideen“ begeistern? Vielleicht sollten wir es doch bei einem belassen 😊 LG Tante Törtchen

  12. Lachen ist doch die Beste Medizin…. Vielen Dank dafür, wie immer königlich😂
    Nach einem halben Tag im Chaos mit meinem 10 Monate alten und doch schon recht verhaltenskreativen Mädchen, freu ich mich auf die Jahre die noch kommen werden. Darüber muss Frau echt mal ein Buch schreiben⭐️

  13. 😂 nach der Verhaltenskreativenphase, geht das Gehirn dann für ein paar Jahre in den Standbymodus, der in einem noch nicht ergründeten Rhythmus durch kurzeitige Phasen des klaren Denkens unterbrochen wird. Sollte ich das System jemals knacken, schreib ich ein Buch und werde reich! Bis dahin sympathisiere ich dann ab jetzt auch ein weinig mit der Prysellise. Wiedermal ein sehr schönes Bild, danke 😂

  14. Man gräme sich nicht über den Verlust eines fast vollen Flakons »Chanel Mademoiselle«;
    der Gebrauch dessen schickt sich der Bezeichnung nach ohnehin eher für alleinstehende Endvierizigerinnen. 😉

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