Stiftung Warenquest

„Bedenke: Alles, was ich dir anbiete, ist die Wahrheit, nicht mehr.“ (Morpheus)

Eltern sein ist ein bisschen wie der Film „Die Matrix“. Als Morpheus dem jungen Neo erzählt, dass seine bis dahin bekannte Welt nur eine Computersimulation ist, gibt er ihm die zwei berühmten Kapseln.

Schluckt er die blaue Kapsel, kann er weiterhin unbedarft in der Matrix leben. Nimmt er die rote Kapsel, erfährt er die Wahrheit. Die ganze verfluchte Wahrheit…

Der Moment, als ich die rote Kapsel schluckte, war der Tag, an dem ich mein erstes Stiftung Warentestheft gekauft habe. Ich wollte mich während der Schwangerschaft dem herrlichen Rausch des Erstlingsausstattungskaufs hingeben, aber als ich das „Test Spezial Heft Baby und Kinder 2008“ zur Hälfte durchgearbeitet hatte, bereute ich die rote Kapsel zutiefst.

Nur war es da leider schon zu spät. Die Saat des Zweifels war gesät, und seit diesem Tag fühle ich eine irrationale, geradezu moralische Verpflichtung, mir vor jeder Neuanschaffung für die Kinder eine Testergebnisabsolution abzuholen.

Nicht, dass wir morgens alle tot in unseren Betten liegen, weil unsere Matratzen bis an die oberste Würfelschaumkante mit Wohngiften gefüllt waren.

Ich frage mich ernsthaft, woher meine Mutter früher die Chuzpe besaß, einfach mit uns in eine C&A-Filiale zu marschieren und uns selber eine Winterjacke aussuchen zu lassen. Aber bei uns gab es ja auch Orangensaft mit (mindestens) 10% Fruchtgehalt… 80er Jahre… pffffff…

Für mich hingegen gestaltet sich der Einkauf einer neuen Winterjacke für die lieben Kleinen wie ein zähes Abenteuer – Stiftung Warenquest auf der Suche nach dem heiligen Gral.

Nach einer Woche abendlicher Internetrecherche entscheide ich mich für eine wasser- und winddichte, atmungsaktive Taslan-Gewebejacke, die einer extremen Scheuerbelastung standgehalten hat (50.000 Martindale – ein Wert, den sogar viele Möbelstoffe nicht erreichen) und über eine 8.000 mm Wassersäule verfügt.

Außerdem ist sie über und über mit Reflektorstreifen dekoriert, so dass vorbeifahrende Autofahrer meinen Sohn wohl eher für eine Diskokugel als für ein Kindergartenkind halten.

Ich bin sehr erleichtert. Es hat zwar kaum Spaß gemacht, aber dafür habe ich jetzt eine praktische, schöne und vor allem nicht direkt tödliche Winterjacke für die Kinder gefunden.

Ein paar Tage später halte ich das textile Wunderwerk in den Händen und frage mich tatsächlich erst jetzt, wofür genau mein Sohn eigentlich 50.000 Martindale braucht…

Mein Sohn rutscht an einem Tag ca. 12 Nettominuten irgendeinem Abhang hinunter. Das sind von Oktober bis März etwa 36 Stunden reine Abhangrunterrutschzeit.
Die festgeschriebene Abnutzungsnorm bei hartem Polsterstoffbezug in einem öffentlichen Bus liegt bei 40.000 Martindale, und dieses Polster wird von Oktober bis März schätzungsweise 1000 Stunden „berutscht“.

Mein Sohn könnte also 40 Tage lang ununterbrochen 24 Stunden am Tag irgendeinen Abhang runterrutschen. Und er hätte immer noch 10.000 Martindale mehr als das Sitzpolster im Bus. Ob ich die Jacke wohl lieber sandstrahle, statt sie bei 60° in die Waschmaschine zu stecken?

Und die 8.000er Wassersäule? Laut DIN-Norm gilt ein Gewebe mit einer Wassersäule von 1300 mm als wasserdicht. Ein durchschnittlicher Zeltboden besitzt eine Wassersäule von 2000 mm.

Kann mein Sohn sich jetzt auf einer Stuttgart 21 – Demo in den Strahl eines polizeilichen Wasserwerfers stellen, oder stundenlang und ununterbrochen während eines Wolkenbruchs unter der Regenrinne hüpfen? Cool, aber ist das nicht Quark?

Wenn es bei uns im Winter 10 cm Schnee und -10 Grad hat, gehe ich mit meinem Kindern nach allerallerallerallerhöchstens 2 Stunden wieder ins Haus.

Denn es mag ja sein, dass sie noch trocken und warm sind, nachdem sie durchgängig den Abhang auf dem Schlitten oder Hintern runtergekesselt sind, aber ich nicht. Ich trage nämlich in der Regel nur eine Jeans mit Strumpfhose und eine Winterjacke mit eher optischen Vorzügen.

Da stehe ich also mit diesem textilen Alleskönner in der Hand und frage mich, wie es wohl ist, wenn man einfach mit den Kindern in ein Bekleidungsgeschäft geht und sie eine Winterjacke aussuchen lässt. Und dann kauft man ihnen einen Schirm mit einer 400er Wassersäule. Und wenn nach dem freizeitlichen Außeneinsatz alle kalt und durchgefroren sind, geht man einfach nach Hause.

Ist das nicht eine herrliche Vorstellung? Wie cool das wäre.

Aber das mit der Coolness ist so ne Sache. Die hat bei mir nämlich ziemlich gelitten, seit ich meine Verantwortung die meiste Zeit auf dem Rücken geschnallt herumtrage. Ganz ehrlich? Wie sehr ich mich auch anstrengen mag, es wird immer ein kleiner, gehässiger Restzweifel bleiben, ob die Bastelschere nicht vielleicht doch karzinogen ist.

Aber ich bin kein hoffnungsloser Fall.

Ich lerne nämlich gerade, meine Entscheidungen nicht ausschließlich auf ein externes Korrektiv abzuwälzen. Es ist überhaupt nichts verwerfliches an einer durchschnittlichen Winterjacke. Meine Kinder werden ja schließlich auch mit einer durchschnittlichen Mutter groß, und das nicht schlecht.

So habe ich letztens einen Kaffeevollautomat gekauft, ausschließlich basierend auf der Tatsache, ob ich die Menschen, welche das Gerät meiner Wahl besitzen, leiden kann oder nicht.

Und ich bin meiner Lieblingsnussmischung treu geblieben, obwohl sie bei Stiftung Warentest im Geschmackstest durchgefallen ist.

Viva la revolución!

 

Für Greenpeace, denn tief in meinem Herzen hege ich diesen dreckigen kleinen Wunsch, dass sie eines Tages aufdecken, dass in den Testkellern von Stiftung Warentest ein Haufen Rhesusäffchen über viele Stunden gezwungen wird, an schadstoffbelasteten Magnetpuzzleteilen zu lecken.

Daraufhin wird Stiftung Warentest an einen chinesischen Investor verkauft und geht wegen erheblichem Qualitätsverlust und stinkenden Testheften schließlich pleite und ich kann in aller unwissenden Seelenruhe wieder Kleidung in der Matrix kaufen.

18 Gedanken zu „Stiftung Warenquest

  1. Nee, was geil! Dankeschön, habe herzlich gelacht! Wollte hier erst alle Textstellen benennen/zitieren, die mir gefallen, aber das wären dann ja so ziemlich alle! 😉
    Drücken wir also die Daumen, dass unsere Kinder all die Todesfallen „Spielzeug“, „Kleidung“, „Wohnung“ und – ganz wichtig! – „Natur“ überleben werden!
    Ein herrlicher Beitrag, made my day!

  2. Hallo Andrea!
    Da lese ich freudig, aber noch schlaftrunken deinen neuen Beitrag…vielmehr ich sehe das Foto
    “ karzinogene Apfelsaftschorlen “
    Sofort greifen meine innerlichen Krisen – und Alarmbereitschaftsmechanismen… Was habe ich verpasst, was wenn wir auch verseucht Schorle im Haus haben?!
    Ooohhhmmmm…alles wird gut 🙂
    Ein gelungener Auftakt in den Morgen, so schnell hätte mich nicht mal ein starker Espresso an den Start gehen lassen. Herrlich und ich gestehe, bin auch phasenweise geneigt, vor einem Einkauf für mein Kind, erst tagelang für „Bedenkenlosbescheinigungen“ zu recherchieren.
    Wie sind wir in den 70ern und 80ern bloß alle durchgekommen ;-))…dort gab es wahrscheinlich eben nur die blauen Matrix Kapseln im Sonderangebot und das ganze auch noch ohne Testergebnisse von Ökotest und Stiftung Warentest.

  3. Wieder einmal vielen Dank für diesen Artikel! Mir geht es so ähnlich, wenn ich auf der Suche nach dem perfekten Produkt die Rezensionen auf amazon lese und das Produkt dannn nicht kaufen, weil einer von 5783 Rezensenten das Produkt nur mit einem Stern bewertet hat. Wie schön zu wissen, dass ich nicht allein bin in der Konsumhölle. 🙂

    Liebe Grüße
    Anne

  4. Oh Gott, ja. JA. Diese abendlichen Internetrecherchen! Was hab ich da schon Zeit verschwendet (die ich ansonsten ja behaupte, nicht zu haben). Das letzte Produkt, welches mich schon vor dem Erwerb zur Verzweiflung trieb, war der Buggy. Wochenlang verglich ich Testberichte, Rezensionen und Foreneinträge, um dem Kiddo einen eventuellen Bandscheibenvorfall im fortgeschrittenen Alter zu ersparen. Dann erwarb ich ganz aufgeregt das Fahrzeug meiner Wahl im Internet. Um dann nach wenigen Tagen festzustellen, dass der Schieber zu niedrig für meinen hochgewachsenen Gatten ist. Der muss beim Buggyschieben nun so komisch trippeln wie eine bucklige Oma mit akuter Blasenschwäche, sonst gerät er mit den Füßen ins Räderwerk und legt sich auffe Schnauze. Tja. Hätt ich mal lieber den erstbesten gekauft.

      1. Frag nicht. Ich hab da meine Kontrollwut ausgelebt. Und am Ende kann der Mann das Teil nicht benutzen. Glückwunsch, kann ich da nur zu mir sagen.

      2. Na, was ein Glück, daß der Jüngste meiner Schwägerin grade aus Kinderwgen, Buggy, Babyschale fürs Auto etc. rausgewachsen war und wir ihr den ganzen Kram einfach ohne Stiftung Warentest zu befragen abgekauft haben. 😉

  5. Ich fühle mich irgendwie beobachtet: gestern auf dem Sofa auf EXAKT die beschriebene Weise neue Matschklamotten fürs Tochterkind erstanden und heute noch manisch grinsend 80€ im Schuhladen hingeblättert (ich selbst trage rissige Jeans und Chucks mit den bewährten Löchern im der Sohle). Und dann lese ich diesen Text…Andrea, versteck‘ dich nicht länger in meinem Wohnzimmer – komm lieber raus und lass uns Kaffee trinken!!:)

  6. Wie schreibst Du doch wunderbar! Und so „Genau-genau-so-isses-!“-ig!
    Neulich versuchte mich eine Freundin vom Gesundheits-Optimierungswahn abzubringen mit den Worten: „Guck mal, wie wir groß geworden sind: Die DDR hatte den höchsten CO²- Ausstoß der Welt, wir Kinder saßen unangeschnallt hinten im Lada, während Papa und Opa vorn bei geschlossenem Fenster dauerqualmten!“. Und ich dachte nur an mögliche Erbschäden, die möglicherweise in meiner DNA ob dieser Kindesmisshandlung auf ihren Moment gewartet hatten, um in meinen unschuldigen Kindern zuzuschlagen! Besser, wir stülpen ein Sauerstoffzelt über das Kinderzimmer. Für alle Fälle! Eine Bio-Öko-heileWelt-Matrix.
    Ich komm mir voll blöd vor. Aber ich hänge auch in meiner Matrix fest… DONGE für den Artikel.
    Warte, hier bitte: <3
    Sonnige Grüße, Rike

  7. liebe Andrea,

    Das kann so nicht weitergehen! Ich kann doch nicht jeden deiner Artikel in den sozialen Netzwerken teilen, sehe mich aber in Anbetracht deiner Treffsicherheit bei allen Themen momentan schlicht und ergreifend dazu gezwungen! Schöner hat es noch niemand auf den Punkt gebracht! In diesem Sinne: „Share me, Baby, one more time“ 🙂

  8. Liebe Andrea,
    ich habe deine wunderbare Seite entdeckt und bin schon jetzt Fan. Wie schön zu hören, dass wir Mütter doch irgendwie alle die gleichen Gedanken hegen. Habe ich vor drei Jahren wie du die Warentesthefte verschlungen, um zu erfahren, dass alle käuflichen Wickelunterlagen schafstoffbelastet sind. Woraufhin ich selbst einen Bezug aus Biobaumwolle geklöppelt und mit Dinkelspelz befüllt habe. So bin ich heute ohne Gewissensbisse bereit, auch mal einen H&M-Schuh an die heiligen Füße meiner Kinder zu ziehen oder kriege keinen Herzanfall mehr, wenn meine Tochter im Wartezimmer einer Arztpraxis in ein Spieltier aus Weichgummit beisst. Wir werden alle cooler mit der Zeit….. Ich freu mich auf mehr von dir!!!!
    Laura

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