Heute stell ich meinen Alltag mit Herbert Grönemeyer nach

Ein nostalgisches Musikexperiment

Es mag ja durchaus etwas an den absurden Gerüchten dran sein, dass die Currywurst in Berlin erfunden wurde, und wenn ich ganz ehrlich bin, steht der schönste Zechenturm der Welt nicht in Essen, sondern in Paris. Aber das war es dann auch schon. Ansonsten kommt nämlich alles, wirklich ALLES, was toll ist, aus dem Ruhrgebiet.

Hier wurde das Sekundenklebereiweiß, der Impulsrückstossgenerator, sowie die berühmte Bananenflanke vom Schalker-Urgestein Heiner „Geschoss“ Czoskowski erfunden. Das ist das Schöne am Internet. Hier kann man einfach alles behaupten und es wird geteilt.

Dennoch: Ich liebe den Ruhrpott und seinen ganzen albernen Bang Boom Bang Pathos. Obwohl ich seit mehr als zwanzig Jahren dort nicht mehr lebe, fahre ich weiterhin nach Hamburch, binde meine Haare mit einem Gummiflitscher zusammen und koche Nudeln mit Kranwasser. Zechentürme im Sonnenuntergang, Smog, der nach warmen Sommerregen auf dem Straßenpflaster dampft, ein Herz aus Kohle…hach ja…wenn es um den Ruhrpott geht, werde ich immer eine alte Pathete…

Und jetzt zu Herbert Grönemeyer. Meiner persönlichen Ikone des Ruhrpotts. Es gab einfach in den letzten hundertdrölf Jahren, abgesehen von Dirk Nowitzki, keinen größeren Superstar als Herbert Grönemeyer. Da brauch ich jetzt auch keine Diskussionsrunde mit den fünf Leuten starten, die den doofen Westernhagen auf Facebook geliked haben.

Dank meines Vaters bin ich seid meiner Grundschulzeit ein großer Herbert Grönemeyer Fan und wenn ich heute diese irrationale Sehnsucht nach einem Glücksgefühl aus meiner Ruhrpottkindheit habe, dann stelle ich meinen Alltag im Kopf gerne mit Herberts Liedtexten nach.

Los gehts.

05.52 Uhr    Der Kleine ist als erster wach. Ich schleppe mich ins Badezimmer. …Wir haben wieder die Nacht zum Tag gemacht. Ich nehm` mein Früstück, abends um acht. Gedanken fließen, zäh wie Kaugummi. Mein Kopf ist schwer wie Blei, mir zittern die Knie…

07.07 Uhr    Frühstück. Nachdem das Marmeladenbrot ausgiebig durch die Gesichter der Kinder gewandert ist, verspüren sie den dringenden Wunsch mich zu küssen. …Deine Liebe klebt…, denke ich, während ich unsere Gesichter wasche.

09.39 Uhr    Der Kleine steht grinsend vor mir, nachdem er mit einem rosa Filzstift die türkise Stofflampe in der Küche über dem Esstisch bemalt hat. …Von Verlegenheit überhaupt keine Spur, er ist nun mal ne Frohnatur. Er grinst nur. Mhmmm, er grinst nur…

10.16 Uhr   Ich fahre zum Einkaufen. Der Kleine wird von Oma spazieren geschoben. Ich habe das Auto ganz für mich alleine. …Sie mag Musik nur wenn sie laut ist, das ist alles was sie hört, sie mag Musik nur wenn sie laut ist, wenn sie ihr in den Magen fährt…

13.01 Uhr    Kindergartenabholfahrt. Alle Eltern sind gleichzeitig da. Das Ergebnis ist eine einfach Rechenaufgabe, wenn man die Parkplätze zusammenzählt. …Ich drehe schon seit Stunden hier so meine Runden. Es trommeln die Motoren, es dröhnt in meinen Ohren. Ich finde keinen Parkplatz. ich komm‘ zu spät zu dir mein Schatz…

13.42 Uhr    Mittagessen. Es gibt irgendwas mit Kartoffeln und Gemüse, wobei das Gemüse nur Dekorationszwecken dient. Sehr müde und sehr hungrig ist eine sehr anstrengende Mischung. ...Kommße vonne Schicht, wat shöönret gibbet nich, als wie Currywurst. Bisse richtig down, brauchse wat zu kaun, ne Currywurst…

14.06 Uhr   Ich räume die Spülmaschine aus und mein Blick fällt auf dein Bild. Ich denke an dich. An dein Arbeitszimmer. Das Durcheinander auf deinem Schreibtisch. Wie du da sitzt und sagst: „Der Herbert, dat issn geiler Typpp.“ Genauso hast du es gesagt. „Typpp“… mit drei p, während Herbert aus dem PC-Lautsprecher sang …Der Mensch heißt Mensch. Weil er irrt und weil er kämpft. Weil er hofft und liebt, weil er mitfühlt und vergibt. Und weil er lacht. Und weil er lebt. Du fehlst…

15.22 Uhr    Die Kinder spielen. Das heißt, ich bin mir nicht sicher. Vielleicht hauen sie sich auch die Köppe ein. …Sie sind die wahren Anarchisten, lieben das Chaos räumen ab. Kennen keine Rechte, keine Pflichten, noch ungebeugte Kraft, massenhaft, ungestümer Stolz…

17. 34 Uhr    Mein Mann ruft an. Er sagt, er ist heute früher zu Hause. …Männer stehen ständig unter Strom, Männer baggern wie blöde, Männer lügen am Telefon…

20.13 Uhr    Die Kinder können nicht schlafen. Ich lege mich zu ihnen und erzähle noch leise die Geschichte von der kleinen Ameise, die nicht schlafen wollte. …Wärm` mich an deiner Stimme, leg mich zur Ruhe in deinem Arm, halt mich nur ein bisschen bis ich schlafen kann. Halt mich, nur ein bisschen, bis ich schafen kann…

21.29 Uhr    Mein Mann kommt nach Hause. …Schön, dass es dich gibt…Ich schaue auf die Uhr. …Nimm mich im Sturm, die Nacht ist kurz…

Ich frage mich, ob ich das als Bayer wohl mit Konstantin Wecker nachstellen könnte? Oder als Berliner mit Rio Reiser? Jedenfalls habe ich festgestellt, dass ich meine Wurzeln, egal wo, in jede Erde setzen kann. Solange ich nur genug Licht habe.

Und Wasser.

Und Liebe.

Und Herbert.

Hier noch einmal zum Nachhören, das Mixed Tape für den nachgestellten Alltag mit Herbert Grönemeyer:

05.52 Uhr –> Alkohol

07.07 Uhr –> Deine Liebe Klebt

09.39 Uhr –> Was Soll Das?

10.16 Uhr –> Sie Mag Musik Nur Wenn Sie Laut Ist

13.01 Uhr –> Mambo

13.42 Uhr –> Currywurst

14.06 Uhr –> Mensch

15.22 Uhr –> Kinder An Die Macht

17.34 Uhr –> Männer

20.13 Uhr –> Halt Mich

21.29 Uhr –> Halt Mich (Unplugged)

 

Für Gisbert (1947 – 2004)

Du fehlst.

 

 

14 Gedanken zu „Heute stell ich meinen Alltag mit Herbert Grönemeyer nach

  1. Ich wohne auch schon längst nicht mehr im Pott, aber das Herz bleibt doch da, ne? Mir geht das Herz auf, wenn ich Zechentürme und Co. sehe, neumodisch „Industriekultur“ genannt. Mein Mann schüttelt da eher den Kopf, der Charme dieser Bauwerke bleibt ihm als gebürtigem Münsteraner (ich sach nur… Giebelhäuser-Idylle) verborgen. Obwohl ich es hier in Münster wunderbar finde, ich freue mich jedes Mal wieder über Gasometer, Landschaftspark, Zollverein…… Und wenn man mich sehr überrascht, rutscht mir auch schon mal ein gepfeffertes „Hömma!“ raus! 😉

    Viele Grüße
    Nele

  2. Herrlich! Herbert liebe ich sehr, auch ohne Ruhrpott-Background. ♡

    Was fehlt, eigentlich jeden Tag im Alltag mit Kindern: „Lachöööö wenns nicht, zum Weinen reicht!“ 😉

    Liebe Grüße
    Isa

    P.S.: Wusstest du, Herbert geht 2015 wieder auf Tour!

  3. Was für eine schöne Blog-Idee und welch bewundernswerte Textkenntnis auch des Grönemeyerschen Frühwerks. Das allererste Konzert, das ich jemals besuchte, war von Herbert: im zarten Alter von 13 Jahren bei seiner Ö-Tour auf der Loreley. Für 18,50 DM! Er hat damals 90 Minuten Konzert und dann nochmal 120 Minuten Zugaben gegeben. Es war grandios. Um Homer Simpson und quasi dich zu zitieren: Sogar besser als Krankenhaus-Bier!

    1. Was für ein unverschämter Kommentar. Ich bin dunkelgrün vor Neid. =D

      Mein allererstes Konzert war auch mit 13 aber ich musste die unfassbare Summe von 30 DM aufbringen. Es waren übrigens Ton Steine Scherben. (Das ist natürlich gelogen. Es waren New Kids On The Block. *gacker)

  4. Liebe Andrea, sehr SEHR fein gemacht dieser Artikel.
    Das liegt nicht nur daran, dass ich Deinen Musikgeschmack teile (gern auch hardcoriger).
    Mir fallen im Alltag auch oft zig Liedtexte ein, situationsgebunden. Finde ich witzig, die Idee.

  5. Zitat: „…und koche Nudeln mit Kranwasser“ Wie geil!

    Erst gestern haben mich die Berliner Nachbarsgören völlig verständnislos angeguckt, als ich Sie in vernehmlicher Lautstärke angesäuselt habe, sie möchten doch „jetzt mal das Kranwasser ausdrehen, aber flottich!“ Ich habs dann selbst gemacht…

    Sprachbanausen, die! Und ’ne Duschtasse kennen die auch nicht!

  6. Jetzt habts Ihr mich mit Eurem Kranwasser dazu gebracht, zu dudeln.
    Ach herrjeh. Den Herbi, den kennen wir auch hier, die Songtexte sind mir wohl vertraut. Wenn auch der Soundtrack zu meiner Jugend von Züri West und Patent Ochsner geschrieben wurde.

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