Emotionale Kernschmelze wenn die Erbsen auf der falschen Seite des Tellers liegen

Oder: Wenn meine Kinder einen allzu lockeren Umgang mit meinen Nerven pflegen.

Ich stehe also an einem Samstagvormittag an einer Supermarktkasse, irgendwo in Deutschland. Mein Sohn (4) möchte gerne ein Überraschungsei. Muss ich noch weiter erzählen? Na gut.

Ich (neutral): „Nein.“

Er: „Bitte!“

Ich: (freundlich, aber bestimmt) „Nein!“

Er: „Biiiitte!!!

Ich (Jesper Juul gelesen): „Ich verstehe, dass du jetzt gerne ein Überraschungsei möchtest, aber ich habe Nein gesagt.“

Er: „(***bleep***bleep***bleep***bleep***)“

So, Jesper. Ich habe Verständnis für sein Anliegen, bleibe aber dennoch bei einem klaren, freundlich-neutralen Nein. Prima, ne? Und nu? Jetzt liegt er nämlich auf dem Supermarktboden und brüllt die Hütte zusammen. Was mach ich denn jetzt? Ich weiß, ich weiß….ich bleibe bei meinem freundlich-neutralen, aber bestimmten Nein und wiederhole ggf. noch einmal mein Verständnis. Ich verstehe das. Ich finde das wirklich gut und einleuchtend. Beide Daumen hoch.

ABER ER LIEGT DA UND SCHREIT, ALS OB ICH GERADE MIT MEINER WEIGERUNG, EIN ÜBERRASCHUNGSEI ZU KAUFEN, GEGEN IRGENDWELCHE GENFER KONVENTIONEN VERSTOSSEN HABE!!!

In der Zwischenzeit werden von Seiten des Kindes, meinem Publikum und mir selber, alle meine mütterlichen Qualitäten in Frage gestellt. Hinter mir steht ein junges Pärchen und versucht nicht einmal sein Kichern hinter vorgehaltener Hand zu verbergen.

Ich sage ihnen, in einem freundlichen-neutralen Ton: „In ein paar Jahren lache ich dann über Euch und Eure Kinder.“ Sie hören auf zu kichern. Prima, bei Anfang 20-jährigen funktioniert das also. Dumm nur, dass meine Jungs erst 4 und 1 sind.

Ein kleiner Zeitsprung in meine Vergangenheit. Ich wurde als ca. 10 Jahre altes Urlauberstadtkind mal von einem halb so alten Bauernhoflümmel in einen Güllemisthaufen geschubst. Ich musste dann, von oben bis unten voll mit Scheiße (und das kann ich jetzt wirklich nicht eleganter ausdrücken, denn Scheiße bleibt nun mal Scheiße) an sämtlichen Urlaubsgästen vorbei, die es sich vor dem Haus auf der Terrasse gemütlich gemacht haben.

Ich habe damals versucht, mit größtmöglicher Würde das ganze Gelächter und die vielen „Iiiiiiih“-Rufe auszuhalten, als ich an allen Leuten vorbeigehen musste, um zu meinen Eltern zu gelangen. Und es ist wirklich schwer, seine in diesem Alter noch sehr zerbrechliche Würde zu bewahren, wenn man von oben bis unten in Scheiße gehüllt ist. (Ich finde im Übrigen, dass diese Situation auch viel über das Verhältnis zwischen Erwachsenen und Kindern in den 80er Jahren aussagt…aber das nur so am Rande.)

Wenn ich mich also in einer Überraschungseieruption befinde, habe ich jedes mal diesen Flashback aus meiner Kindheit. Während mein jetzt zutiefst unglückliches, völlig überdrehtes Kind sich auf dem Fußboden wälzt, fühle ich mich irgendwie von oben bis unten in Scheiße gehüllt……………..vor Publikum.

Meine ganzen Ratgeber und Elternforen sind in dem Fall nämlich leider auch nur so hilfreich wie eine Reanimation bei einem Herzinfarkt. Warum gehen alle nach Hause, wenn das Herz wieder schlägt? Wo bleibt die Infusion, die Trage, der Krankenwagen, das Einbettzimmer mit Blick auf den Park?

WIE geht es nach der Erste-Hilfe-Maßnahme weiter? WIE kann ich die hundertste Überraschungseiapokalypse und die Ratschläge von „Ach, holen se dem Kleenen dochn Ey-schen“ oder „So ne Tracht Prügel rückt die manchmal wieder gerade.“ würdevoll überstehen, ohne dass ich zu Hause gleich völlig paralysiert in der Abstellkammer vier Flutschfinger esse und mir selber leid tue.

Und wer zur Hölle hat eigentlich Mütter nach ihrer Meinung gefragt, deren Kinder „so etwas noch nie gemacht haben“? Ich möchte das nicht hören. Egal ob es stimmt. Was ich hören möchte, sind Sätze wie „Er hat auf die Katze gepinkelt………aber nur einmal…..“

Was ich jetzt brauche ist Folgendes:

Eine Modefotostrecke zum Thema „Ihr Kind dreht durch? So sehen sie dabei wenigstens gut aus.“

Ja, genau. Warum denn nicht? Ich bin ja bereits in Empathie gegangen und habe freundlich-neutral „Nein“ gesagt. Nun muss ich das ganze Drumherum aushalten. Jetzt lasst mich wenigstens dabei gut aussehen.

Ich schlag also irgendein Elternmagazin in meinem Kopf auf und sehe eine adrette Testimonialmom, wie sie neben dem „Fliegenpilzzeichen“ an der Kindergartengarderobe steht, während ihr Kind beim Anziehen seiner Stoppersocken phänomenal die Nerven verliert.
Dazu trägt sie ein bezauberndes Kleid von Tranquillo, eine brombeerfarbene Umhängetasche von Liebeskind und eine sportliche Sonnenbrille von Vivien Westwood.

Ich habe sofort hunderte solcher Szenen im Kopf mit Settings in der H&M Umkleide, auf der Autobahnraststättentoilette, beim Zähneputzen, im Zoo, vor der Pommesbude, im Freibad oder weil die Erbsen auf der falschen Seite des Teller liegen. Meinen Text kenn ich. Jetzt zieht mir bitte ein würdevolles Nervenkostüm an.

Und Laura Markham und Jesper Juul möchte ich bitten, einen weiteren Ratgeber zu schreiben. „How to stop yelling and start connecting“, sowie „Nein aus Liebe“ haben wir bereits gelesen.

Es wird allerhöchste Zeit für „Fifty Shades of I don`t give a shit“!

 

Für Melanie.
Ich mag Mütter deren Kinder sich auch auf dem Supermarktfußboden wälzen.
Und für Ina.
Die nun einen verstörten Kater zu Hause hat.

22 Gedanken zu „Emotionale Kernschmelze wenn die Erbsen auf der falschen Seite des Tellers liegen

  1. Danke! Das spricht mir aus tiefster Seele und das Beste: Ich musste dabei herzlich lachen – natürlich nicht, ohne vorher in Empathie gegangen zu sein mit der betroffenen Mutter. Das nächste Mal will ich auch gut aussehen!! Wo stand doch gleich, was ich anziehen muss? 🙂

  2. Wie wunderbar! Danke, für diese überaus heiteren Momente. Ich liebe deine Ehrlichkeit.
    Wie ich dich kenne, hast du auch diese Situation bezaubernd gelöst auch ohne Liebeskindtasche.

  3. Mich würde ja brennend interessieten, warum er kein ü-ei bekommt? Weil er lernen muss, dass…? Oder weil wirklich kein geld dafür da ist?
    ..ich glaube etwas kann noch so schön verpackt werden, wenn die motivation dazu nicht passt, hilft das alles nichts…

    ich denke das bauernhof kind hätte dich noch so liebevoll und freundlich in dir scheiße schubsen können.. am ende war das ergebnis das gleiche.. du voll scheisse..

    Ich kann noch so freundlich und liebevoll etwas verbieten, wenn die motivation dazu ist „ich stehe über dir und du musst gehorchen weil ichs eh besser weiss“ … dann kommt nicht die freundlichkeit an, sondern das was dahinter steht „kind du sollst bitte so funktionieren wie ich das jetzt gern hätte.. immerhin bin ich doch freundlich zu dir“ …

    1. Das ist genau das, was mich an diesen Juul-Leserinnen und -Lesern so stört. Ich muss meinem Kind beibringen, wie es sich in einer Welt zurecht findet, in der ihm in der Regel nichts geschenkt wird, in der ihm in der Regel Knüppel zwischen die Beine geworfen werden. Und das tue ich mit Liebe, Fürsorge, Empathie, und, aufgemerkt, jetzt kommts, Grenzen. Grenzen, die für das Kind in seiner Verständnisebene nicht unbedingt Sinn ergeben müssen (Bsp.: „Papa, da kommt dich noch gar kein Zug, kann ich nicht noch ein bisschen auf den Gleisen herumhüpfen, das ist so schön.“) Dann ist die Antwort einfach „nein“ und nicht „warum willst du das denn jetzt, liebes, gleichberechtigtes Wesen“, vor allem, wenn man’s davor schon drei Mal gesagt hat.. Kinder sind nicht gleichberechtigt, sondern uns bis zu einem gewissen Grad zum Schutz anvertraut.

  4. Meine Kinder bekommen auch nicht jedes mal wenn sie mit mir einkaufen sind ein Ü- Ei. Und das hat nichts mit Geld zutun. Sondern mit Erziehung. Und, ich brauche mit meinem Kind bestimmt nicht alles ausdiskutieren, denn bestimmte Sachen weiß ich einfach besser. Und jetzt spinnen wir das mal weiter. Mein Kind lernt, wenn ich mit Mama einkaufen gehe, bekomme ich immer was. Irgendwann wird es nicht nicht mehr mit einem Ü- Ei zufrieden geben. Dann will es mehr. Was willst du dann machen, wenn dein Kind 18 Jahre ist und nie gelernt hat, das man nicht immer alles bekommt. Kaufst du dann jedesmal ne neuen teuren Pullover, Jeans ect. oder gleich ein Auto!?!

  5. Also meiner Erfahrung nach ist „Ich verstehe, dass du jetzt gerne ein Überraschungsei möchtest“ KEINE Empathie – und das ist vermutlich auch der Grund, warum der Vierjährige so tobt. Er sagt damit: „Bitte, Mama, hör doch WIRKLICH was ich brauche“ (bzw. „hilf mir, herauszufinden, was ich brauche“). Es gibt ja wohl (auch für uns Erwachsene) kaum etwas frustrierenderes, als wenn man nicht gehört und gesehen wird, in dem, was man meint und tut und ist.
    Also z.B. könnte sein, dass er gern mitbestimmen möchte, was eingekauft wird (Gleichwertigkeit, Mitgestaltung, Selbstbestimmung). Oder dass er auch mal sowas in der Schule mit dabei haben will, wie die anderen Kinder (Zugehörigkeit). Oder er hat einfach gerade Lust darauf (Hunger, Genuss). Oder, oder, oder…
    Ich gestehe, dass ich in der Praxis auch nicht immer 100%ig einfühlsam bin; aber da wo ich es schaffe, ist es IMMER hilfreich. 🙂
    Wer gerne echte Empathie lernen möchte, ist übrigens bei der sogenannten „Gewaltfreien Kommunikation“ bestens aufgehoben (www.gewaltfrei.at, http://www.gewaltfrei-dach.eu, http://www.cnvc.org).

  6. Wie wär`s mit einer landesweiten Demo aller Eltern im gesammten Land?: Alle schmeiße sich brüllend auf Höhe der Quengelware auf dem Boden und bleiben da mindestens 20 Minuten liegen. Wenn die Eier da nicht mehr stehen, schreien die lieben Kleinen zwar keine Sekunde weniger, aber immerhin nicht mehr da, wo sich alle zum Zusehen versammeln. Also ich wär dabei.
    Liebe Grüße
    Anna

  7. Diese Fantasievorstellung erinnert mich an American Psycho. Visuelle Stimulation die die Realität verdrängt, überzogenes Modebewusstsein, Katalog Jargon, Referenzen, Selbstdarstellung, und Humor. Jemand sollte ein professionelles Fotoshooting nach deinen Vorstellungen machen. Vielleicht sucht ein Media Design Student Inspiration?

  8. Ich bin Mutter von 3 kleinen Tyrannen (6,3, und 2Jahre) und kenne solche Entgleisungen ebenfalls in allen Lebenslagen: ICH wollte die Tür auf machen, ICH will aber da sitzen, das hatte ICH zuerst….sind täglich bis zu 5 Mal drin….Ich kann Dich beruhigen es sind Phasen…mit 6Jahren wird DIESE Phase besser, dafür kommt eine andere und ob die wirklich entspannter wird??? Ich bin mir da gerad nicht sicher….aber sie wird anders!!! Behalt den Humor 😉 Du bist nicht allein!!!
    Lg Nadine

  9. oh gott diese Bilder in meinem Kopf. Ich muss diese Modefotostrecke haben. Ich ruf da mal meine Fotografenfreundin an……
    sensationell. Danke für die Tränen der Freude

  10. Bin hier gestern zufällig gelandet und habe viel Zeit mit Lesen und Lachen verbracht – und mir bei der morgendlichen Tobsuchtsattacke was anzuziehen nun wintertauglich ist und beim 1000 „steh bitte endlich auf“ beim anderen Kind ausgemalt, wie das eine nette Modefirma passend umsetzt… Mama stylt sich fröhlich im cool-stylischen Urban-Fashion-Mama-Lifestyle Look (wahlweise auch hippen Öko-schick…) und das eine Kind zerrt 100 hübsche Mini-Dingsda oder verdreht-sich-nix-lustige Ringelteile aus dem Schrank während das andere sich in der Öko-zertifizierten Bettwäsche räkelt… Großes Kopfkino! Meinen Kindern sage ich übrigens immer, dass mir ja auch niemand „ein Haus, ein Auto und einen Brillantring kauft nur weil ich das gerne will“ und das nützt so wenig, wie bei (fast) allen anderen. Das einzige Erfolgserlebnis, das ich da je hatte war, als mein eines Kind sich tobend in den Schnee geschmissen hat weil er keine Lust hatte, nach Hause zu laufen und ich die umstehenden klugsch**** Passanten angebrüllt habe, sie könnten ja mein Kind gerne nach Hause tragen, ich sei schwanger und wir wohnen nur 100 Meter weiter. Hat keiner gemacht, meinem Sohn (damals 3) war das aber echt peinlich und er ist freiwillig mitgekommen…. Wie auch immer, großartige Unterhaltung hier! Jetzt gehe ich Zutaten für Apfelpfannkuchen kaufen 🙂

  11. Über den Satz „In zwanzig Jahren lache ich dann über eure Kinder“ musste ich sehr grinsen – sowas Schlagfertiges fällt mir immer erst nach so einer Situation ein…
    Aber ich habe darüber nachgedacht, wie ich eigentlich bei meinem Sohn (inzwischen 7) mit dieser Quengelkassen-Situation umgehe (und den emotionalen Kernschmelzen überhaupt). Die Situationen werden seltener. Aber ich erinnere mich, dass ich, als er 2,3 war und solche Szenen häufig, einen Gedankentrick hatte, der mir total geholfen hat (immer vorausgesetzt, es ging hier wirklich um eine Grenze, die ich ziehen wollte, und die mir wichtig war). Es war der simple Gedanke: „Jetzt heult er zwar, aber ich mache ihm gerade ein Geschenk.“ Auch auf die Gefahr hin, banales Allgemeinwissen zu verbreiten: eine (sinnvolle) Grenze gesetzt zu kriegen, ist für jedes Kind eine gute Sache. Und das als Mutter ab und zu hinzukriegen, gibt mir ein gutes Gefühl. Aber nicht um jeden Preis. Wenn ich – aus welchem Grund auch immer – mit den Nerven schon am Ende bin, wenn die Situation anfängt, hilft auch der Gedankentrick kaum. Und wenn dann noch Publikum da ist, und die ganze Sache in eine Beschämungs-Orgie ausartet, ist es auch okay, sich selbst einen Gefallen zu tun und das verdammte Ei zu kaufen – die nächste Gelegenheit zum Üben kommt bestimmt.

  12. Naja also sooo schlimm ist das doch nicht wenn die Kinder austicken! Meiner ist noch zu klein dafür, aber mich hat das an ner kasse noch nie gestört wenn ein Kind austickt. Man weiß doch das das bei jedem Kind mal vorkommt. Das gehört doch dazu. Bin schon gespannt wie ich dann reagiere, aber ein gutes Outfit anzuhaben funktioniert vielleicht 😉 vielen Dank an die Mutter mit Sohn und Katze! Lange nicht mehr so gelacht! 😉 – super Blog! !!!

  13. Vielen Dank!
    Ich bin über Umwege hier gelandet, habe über viele Artikel so laut gelacht, dass ich befürchten muss, die Kinder wieder aufzuwecken (nein, sie schlafen nicht im eigenen Bett, ja, sie sind aus dem Stillalter heraus, aber ehrlich: Corona hat uns alle ge… und wenn das hilft, um diesen Wahnsinn zu überstehen, dann sei’s drum).
    Beim Artikel „Mein Baby ist doof“ musste ich heftig weinen. Du hast Recht. Mit allem und es ist so schön, dass Du es so gut in Worte fassen kannst.
    Falls Du so bist, wie all die Mütter, die ich kenne, dann kritisierst Du Dich selbst am Meisten.
    Deshalb: allen geht es so, aber nur die Sympathischen geben es zu!
    Du hast eine Gabe, mach weiter mit Deinen wunderbaren Texten, sie helfen (mir und all den anderen überforderten Müttern da draußen.)

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